Komplexe psychische Traumatisierung
Bei komplexen psychsichen Traumata handelt es sich um frühe bzw. wiederholte Erfahrungen von Verletzungen der persönlichen Integrität z.B. durch das Erleben oder Miterleben von emotionaler Vernachlässigung, körperlicher bzw. sexualisierter Gewalt oder Trennungen von wichtigen Bezugspersonen (Braun & Bock, 2003; Becker, 2007).
Auch eine auf Dauer inkonsistente oder zurückweisende Erziehung kann zu Gefühlen von ausgeprägter Hilflosigkeit und Kontrollverlust führen und damit wesentliche Kriterien eines psychischen Traumas erfüllen (vgl. Steingen et al., 2015).
Kennzeichnend für komplexe psychische Traumata ist, dass diese Erfahrungen, anders als psychische Monotraumata, zum Alltag der Betroffenen gehören. Insbesondere bei früh einsetzenden komplexen Traumata können Lebensphasen mit ungestörten psychischen Entwicklungsmöglichkeiten gänzlich fehlen.
Die Folgen früher und komplexer Traumatisierung führen sowohl zu psychischen als auch zu physischen Veränderungen, welche zusammenwirken.
So kommt es zur dauerhaften Überaktivierung bestimmter Hirnregionen und zu veränderten Genexpressionen. Dies beeinflusst nachhaltig emotionale Prozesse (vgl. McGowan et al., 2008).
Der Begriff der komplexen Traumatisierung verzichtet auf eine objektive Bewertung der Schwere und Intensität der erlittenen Traumata. Entscheidend ist vielmehr das Ausmaß der erlebten Hilflosigkeit und der Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Dies hängt von Intensität, der Häufigkeit und der Dauer der traumatischen Erfahrungen und davon ab, ob den Betroffenen geeignete Bezugspersonen zur Bewältigung zur Verfügung standen (Bambach, 2005).
Je jünger Kinder schädigenden Einflüssen ausgesetzt sind, desto gravierender sind die Auswirkungen der traumatisierenden Faktoren, da sehr junge Kinder kaum eigene Bewältigungsmöglichkeiten haben.
Komplex traumatisierte Menschen können, wie einfach traumatisierte, Symptome einer PTBS zeigen. Diese sind aber nicht immer beobachtbar.
Bei der Mehrzahl der komplex traumatisierten Kinder und Jugendlichen lässt sich keine klassische PTBS diagnostizieren (Van der Kolk;2005). Zur Syndromatik komplexer Traumatisierungen gehören vielmehr:
- Störungen der Affektregulation
- (übermäßiger Ärger, impulsives Verhalten, rasche und tiefgreifende Stimmungsschwankungen, Affektvermeidung, Spannungszustände, geringe Frustrationstoleranz, hohe Erregbarkeit, allgemeine Gefühllosigkeit)
- Störung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins
- (Amnesien, dissoziative Symptome)
- Somatisierung
- Chronische Persönlichkeitsveränderungen
- (Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, Zynismus, Misstrauen, manipulatives Verhalten,
- Veränderungen der zwischenmenschlichen Beziehungen
- (Bindungsstörungen, Opfer- bzw. Täterverhalten, Promiskuität)
- selbstschädigende Verhaltensweisen / Substanzmissbrauch
- Veränderungen in Bedeutungssystemen
- (Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, Gefühle der Hilf- und Wertlosigkeit, Erwartung unvermeidlicher zukünftiger Viktimisierung)
- geringere intellektuelle Leistungsfähigkeit und verminderte Schulleistungen
In den gängigen diagnostischen Leitfäden fehlt bislang eine eigene Diagnosemöglichkeit für komplexe Traumatisierungen. Häufig werden im Zusammenhang mit den o.g. Symptomen im Kindes- und Jugendalter Diagnosen wie AufmerksamkeitsDefizitHyperaktivitätsStörung, Trennungsängste, Depression, Bindungsstörungen, Substanzmissbrauch und Störungen des Sozialverhaltens gestellt. Bei betroffenen Erwachsenen werden häufig Persönlichkeitsstörungen, vor allem emotional instabile Persönlichkeitsstörungen (impulsiver Typ, Borderline-Typ) und Antisoziale Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert (vgl. Dolan 1991).